Die Produktion des Aggregates 4
Obwohl die technische Entwicklung mit dem ersten erfolgreichen Start am 3. Oktober 1942 noch längst noch nicht abgeschlossen war, wird in Peenemünde-Süd die Serie angedacht und als Einstieg dazu ein so genanntes Versuchsserienwerk errichtet. Die Kapazität soll etwa 250 Raketen im Monat betragen. So lautete jedenfalls die Anweisung gemäß Vorlage des Reichsministers Albert Speer, die Adolf Hitler am 22. Dezember 1942 unterschrieb. Dabei hatte Hitler zeitweise die Idee, eine große Offensive mit dieser Rakete einzuleiten, d.h. 5000 Stück in kurzer Zeit starten zu lassen. Nur mit Mühe gelang es Oberst Dornberger, jenes undurchführbare Vorhaben zu widerlegen. Nie hätten Bodengeräte und Treibstoffe für einen derartigen Einsatz bereitgestellt werden können, ganz abgesehen von der Fertigung selbst und den erforderlichen Bedienmannschaften. Die dafür aber zumindest erforderliche Dringlichkeitsstufe wurde nicht erteilt.
Das Munitionsministerium verabschiedete im Februar 1943 einen Plan, wonach die Produktion auf drei Werke aufzuteilen sei: Wiener-Neustadt (Rax-Werke), Friedrichshafen (Zeppelin-Werke) und Peenemünde (HVA). Dort sollten zwischen März 1943 und Dezember 1944 insgesamt 5150 Stück A 4-Raketen gebaut werden. Nach einigem Hin und Her um organisatorische Belange der Produktion, benannte Reichsminister Albert Speer am 15. Januar 1943 Gerd Degenkolb zum Leiter des „Sonderausschusses A4“. Dieser überaus energische Industriemanager hatte bisher das Bauprogramm der Kriegslok vorangetrieben und sollte jetzt die Raketenherstellung auf Vordermann bringen. Sein Plan sah vor, bereits ab Dezember 1943 insgesamt 950 Geräte pro Monat zu liefern - und dies ohne höchste Dringlichkeitsstufe. Oberst Dornberger hatte als Direktor der Versuchsanstalt Peenemünde allergrößte Zweifel an solch einem Superprogramm. Gerd Degenkolb nutzte jegliche Möglichkeit aus, das Programm voranzutreiben. Eines seiner Hauptidee war, die komplizierte Rakete zu vereinfachen und damit serienfähig zu machen. Es waren etwa 20.000 Einzelteile zu fertigen. Dem Sonderausschuss A 4 mit Sitz in Berlin-Charlottenburg, Bismarckstraße 112 waren zehn Arbeitsausschüsse (AA) zur Lösung der Einzelprobleme angegliedert, die an unterschiedlichen Standorten in Deutschland tätig waren. Daher später auch die Deckadresse für das Mittelwerk. Insgesamt lief die Planung auf eine intensive Dezentralisierung hinaus, wobei für alle Baugruppen drei „Nachbaufirmen“ bestellt wurden. Der Schaden bei Ausfällen durch Bombenangriffe wie auch durch Transportschwierigkeiten sollte möglichst gering gehalten werden.
Anlässlich eines Vortrages am 7. Juli 1943 vor Hitler im Führerhauptquartier (Wolfsschanze) bei Rastenburg können Wernher von Braun und Oberst Dornberger erreichen, dass dem Aggregat 4 die höchste Dringlichkeitsstufe zuerkannt wird. In dem am 25. Juli von Adolf Hitler unterzeichneten Dokument heißt es u. a.: „Die erfolgreiche Fortsetzung des Krieges gegen England fordert, dass der Höchstausstoß an A4-Geschossen so rasch wie möglich erzielt wird. Allen Maßnahmen, die darauf abzielen, die unverzügliche Erhöhung der A4-Fertigung zu gewährleisten, muss vollste Unterstützung zuteil werden. Der Reichsminister für Bewaffnung und Munition ist bevollmächtigt, nach vorheriger Rücksprache mit mir auf die Kapazität aller militärischen Einheiten des Reiches und der übrigen Kriegswirtschaft zurückzugreifen.“
Im Juli 1943 erfährt der Leiter des Arbeitsausschusses Zulieferung (Teil des Sonderausschusses A4) Paul Figge, der sich anlässlich einer Besprechung in Kassel aufhält, von den unterirdischen Lagerräumen der WiFo (Wirtschaftliche Forschungsgesellschaft mbH) bei Nordhausen. Eine sofortige Besichtigung der Anlage im Kohnstein ließ ihn erkennen, dass sich dort das ideale Fertigungsgelände befand. Das Problem einer neuen, bombensicheren Produktionsstätte für das A4- Programm, mit dem sich seit einiger Zeit die Arbeitsausschüsse herumschlugen, schien einer Lösung nahe.
Dass die Rax-Werke in Wiener-Neustadt am 13. August 1943 mit Bomben belegt wurden, geht wohl auf die Vermutung der Amerikaner zurück, ein Zentrum der deutschen Flugzeugindustrie vor sich zu haben. Von einer A4-Produktion war sicher noch nichts bekannt. Bei jenem Angriff blieben verblüffenderweise die benachbarten Messerschmitt-Flugzeug-Werke unbehelligt. Ähnlich verhielt es sich mit den Zeppelin-Werken in Friedrichshafen, als sie in der Nacht vom 20. zum 21. Juni 1943 bombardiert wurden. Dort wollten die Engländer eine Radarfabrik entdeckt haben.
Zu dieser Zeit begann sich der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, immer aktiver für das A4-Programm zu interessieren. Nach dem Angriff auf Peenemünde erteilte er dem SS-Brigadeführer Dr.-Ing. Hans Kammler den Auftrag, eine bombensichere Produktion des A 4 vorzubereiten. So gibt es immer mehr Interessenten für den Kohnstein. Die WiFo hatte als Eigentümer, noch während die Arbeiten im Bauabschnitt II liefen, über Anschlussgleise bereits Ausrüstungen eingebracht, Tanks und Rohrleitungen montiert. Kesselwagen fuhren den Kraftstoff in den Berg.
Der Beginn des Zweiten Weltkrieges beschleunigte die Arbeiten der WiFo. Der Fahrstollen B wurde am 28. August 1943 fertig gemeldet und konnte zur Nutzung freigegeben werden. Damit war der erste Haupttunnel auf 1,8 km Länge durchgehend befahrbar. Parallel dazu ist auch am Vortrieb des A-Stollens und der querverlaufenden Kammern gearbeitet worden. Das Ziel, 50 Kammern fertigzustellen, war aber noch nicht erreicht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die WiFo bereits einen großen Teil der unterirdischen Kohnstein-Anlage eingerichtet. Im nördlichen Teil befand sich das Zentralöllager des Reiches - voll belegt. Der mittlere Teil war für chemische Kampfstoffe reserviert, im südlichen Abschnitt sollten Kraftstoffe deponiert werden. Im Falle eines Krieges war für Heer, Marine und Luftwaffe an eine Reserve von zwei Jahren gedacht!
Die massiven Bemühungen des Reichsmarschalls Hermann Göring für die Belange seiner WiFo und die damit verbundenen dramatischen Auseinandersetzungen endeten mit dem Führerbefehl: „Die Stollen sind von der WiFo zu räumen und für die A 4-Fertigung sicherzustellen“. In diesem Machtkampf wollte die „in Vergeltung gegen England“ denkende Seite einfach die ungeheuere Bedeutung von Kraft- und Schmierstoffen nicht zugeben. Der Welt größtes unterirdisches Rüstungswerk mit der Tarnbezeichnung „Mittelwerk GmbH“ entstand nun im Kohnstein.
Nach der Zerstörung von Peenemünde in der Nacht vom 17. zum 18. August 19431ief die geplante Verlagerung des Versuchsserienwerkes (Kietz) noch schneller an, obwohl die tatsächliche Raketenteileherstellung nicht übermäßig gestört worden war. Auf Grund der Schäden in den Werken der Versuchsserienherstellung musste die Fertigung für einige Wochen ausgesetzt und geplante Starts verschoben werden.
Inzwischen fährt Minister Albert Speer am 19. August 1943 ins Führerhauptquartier (Wolfsschanze) zu Adolf Hitler und erstattet Bericht über das Ausmaß der Zerstörungen in der Heeresversuchsanstalt. Dort wurden in zahlreichen Besprechungen Sofortmaßnahmen eingeleitet, die den schnellstmöglichen Ausbau der unterirdischen Anlagen im Kühnstein zu Produktionsstätten gewährleisten sollten.
In den neuen Arbeitsausschuss „Serie“ wurde Dipl.-Ing. Alwin Sawatzki berufen, ein fähiger Organisator, der bereits bei der Serienfertigung des Tiger-Panzers auf sich aufmerksam gemacht hatte. Paul Figge wurde zusätzlich zum AA „Zulieferung“ für den neu geschaffenen AA „Verlagerung“ verantwortlich. Der Gauleiter von Thüringen, Fritz Sauckel, sollte als „Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz“ ausreichend Arbeitskräfte für das sich entwickelnde Mittelwerk beschaffen. Nachdem dies nicht gelang, schaltete sich Heinrich Himmler ein. Albert Speer beschreibt diese Situation in seinen „Erinnerungen“ (S. 378/79):
„Nachdem das Projekt V 2 Hitlers Begeisterung erweckt hatte, wurde auch Himmler aktiv. Sechs Wochen später machte er Hitler den Vorschlag, die Geheimhaltung dieses vermeintlich kriegsentscheidenden Waffenprogramms auf denkbar einfache Weise zu garantieren: Wenn die gesamte Produktion von KZ-Häftlingen übernommen würde, wäre jeder Kontakt mit der Außenwelt unterbunden, nicht einmal der Postverkehr existiere, und gleichzeitig mache er sich anheischig, alle gewünschten Fachkräfte aus den Reihen der Häftlinge zu stellen. Lediglich die Betriebsleitung und die Ingenieure müsse die Industrie ihm stellen. Hitler stimmte diesem Vorschlag zu, Saur und mir blieb daraufhin keine Wahl, zumal wir keine einleuchtenden Regelungen vorschlagen konnten. Die Folge war, dass wir mit der SS-Führung eine Geschäftsordnung für ein gemeinsames Unternehmen, das „Mittelwerk“, auszuhandeln hatten. Nur mit Zögern machten sich meine Mitarbeiter an diese Aufgabe. Ihre Befürchtungen sahen sich bald bestätigt. Wir blieben zwar formell in der Zuständigkeit über die Fertigung, doch in Zweifelsfällen waren wir gezwungen, uns der größeren Macht der SS-Führung zu beugen. Himmler hatte damit gewissermaßen einen Fuß in unsere Tür gestellt, und wir selber hatten sie öffnen helfen.“ Obwohl noch Mitte des Jahres die Forderung seitens Adolf Hitler bestanden hatte, nur deutsches Personal bei der Fertigung der Rakete einzusetzen, war jetzt keine Rede mehr davon. Bereits eine Woche nach den neuen Festlegungen in der Wolfsschanze wurden auf Befehl des SS-Brigadeführers Dr. Hans Kammler die ersten Buchenwaldhäftlinge nach Niedersachswerfen transportiert.
Am 1. September 1943 zog die Vorhut der A.A. „Serie“ unter Leitung von Direktor Alwin Sawatzki zum Kohnstein. Seine kleine Gruppe, bestehend aus zwölf Mitarbeitern, übernahm eine Baracke am Nordportal des Stollens A. Diesem Arbeitsausschuss folgten im Oktober 1943 sämtliche anderen. Sie wurden in der Nähe des Mittelwerkes angesiedelt. So fand der A.A. „Transport“ unter Leitung Direktor Kösters eine Bleibe in Niedersachswerfen. Der A.A. „Einrichtungen und Betriebsmittel“ wurde in Wernigerode einquartiert, während der zusammengefasste A.A. „Verlagerung, Zulieferung und Bauten“ seine Büros und Konstruktionsabteilungen im Gelände eines Vergnügungsparks am Stadtrand von Nordhausen einrichtete. Die Geschäftsführung der „Mittelwerk GmbH“ fand ihr Domizil in der „Napola“ Ilfeld, einer nationalsozialistischen Eliteschule, deren Schüler kurzerhand auf andere Institute verteilt wurden. In jenem Gebäudekomplex des ehemaligen Klosters waren etwa 650 Mitarbeiter untergebracht.
Die einflussreichsten Direktoren des „Sonderausschusses A4“, Heinz Kunze und Paul Figge, übernahmen nach der Absetzung ihres Chefs Degenkolb die Leitung. Personalumbesetzungen waren ebenso an der Tagesordnung wie die ständige Veränderung der Produktionstechnologie. Weitere umzulagernde Betriebe mussten eingegliedert werden -ein immer währendes Zusammenrücken war angesagt.
Während sich die gesamte A 4-0rganisation einrichtete und profilierte, lief im Kühnstein der Stollenbau weiterhin auf Hochtouren. Die Mitarbeiter von Sawatzki hatten alle Hände voll zu tun, um Termine einhalten zu können. Täglich trafen mehrere Transportzüge mit Material, Werkzeugen und kompletten Maschinenausrüstungen ein. Die RAX-Werke aus Wien verlegten Fachkräfte und Gerät zum Mittelwerk. Der „Heimat-Artillerie-Park 11“, das Fertigungswerk von Peenemünde, zog mit Belegschaft und der technischen Ausrüstung in den Kohnstein. In Ilfeld wurden weitere 13 Baracken als Wohnlager für 800 Mann errichtet. Ein zusätzliches Lager, bestehend aus 15 Baracken für etwa 1.000 Arbeitskräfte, entstand beim Dorf Harzungen. Um die verlagerten Betriebe samt Produktionstechnik und Belegschaft in das Mittelwerk zu integrieren, mussten 20 Firmen aller Gewerke mit Zivilbeschäftigten und 9.200 Häftlingen eingesetzt werden.
Schleppend lief im Januar 1944 mit zwei A4-Geräten pro Tag die Produktion an. Einem Bericht zufolge wurde am 31. Januar das 56. Gerät von der Taktstraße im Tunnel B heruntergenommen und ausgeliefert. Die ersten vier im Mittelwerk gefertigten A 4-Raketen wurden zur weiteren Komplettierung an die „EMAG-Fahrzeugwerke GmbH“ in Berlin-Falkensee versandt, um dort die elektrischen Geräte einbauen zu k6nnen. Verantwortlich für diese Arbeiten war der A.A. „Elektrische Geräte“ mit Sitz Berlin, der von Direktor Paul Storch geleitet wurde. Später war in dieser Komplettierungsreihe noch der Transport bis zu einer bestimmten „Heeres-Munitions-Anstalt“ vorgesehen. Jene hatten die Nutzlastspitze mit dem entsprechenden Sprengstoff zu füllen.
Vorerst jedoch mussten die Geräte ihre Reise nach Peenemünde antreten, um den Test als Seriengerät aus dem Mittelwerk zu bestehen. …
© Przybilski
|