Das Aggregat 4 und seine Entwicklung
Der Versailler Vertrag nach der Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg schränkte dessen Freizügigkeit in vielen Fragen der Wirtschaft, aber vor allem bei Rüstungsfragen ein. Die Armee durfte nur 100.000 Mann unter Waffen unterhalten und bestand aus sieben Infanterie- und drei Kavalleriedivisionen. Alle vorhandene Munition und die Waffenfabriken standen unter der Aufsicht der Alliierten Hohen Kommission oder waren faktisch nicht existent. Der deutsche Generalstab wurde aufgelöst. Flugzeuge durften nicht gebaut, bestimmte Güter nicht hergestellt werden.
Die Inflation von 1923, Folge der gewaltigen Reparationsleistungen Deutschlands, wurde nur kurzfristig durch die Kredite mittels des Dawes-Planes übertüncht. Zwischen 1924 und 1929 verschuldete sich Deutschland mit rund 900 Mio. Pfund Sterling im Ausland, hauptsächlich in den USA. Eine knappe Hälfte davon ging direkt in die Reparationszahlungen, der andere Teil sollte dazu dienen, die verbliebene Wirtschaft anzukurbeln. Doch Vorgaben und Auflagen knebelte die deutsche Wirtschaft dermaßen, dass ein Ruin nicht aufzuhalten war.
1929 brach in den USA der Aktienmarkt ein. Damit versiegte auch der Strom weiterer Anleihen nach Europa und Amerika schwenkte auf einen Kurs der deflationären Konjunkturpolitik um. Der Welthandel kam zum Erliegen. Der sagenhafte Bankrott der Wiener Kredit-Anstalt 1931 löste in Europa eine Panik aus und brachte die deutsche Wirtschaft vollends ins Aus. Die deutschen Exporte fielen von 630 Mio. Pfund auf 280. Das Arbeitslosenheer wuchs auf sechs Millionen. Hitler wurde an die Macht gespült...
Gegen Mitte der dreißiger Jahre nahm das AGGREGAT 4 als Zwischenetappe für eine Interkontinentalrakete und Technologieträger für noch schubstärkere Raketen schon seine Konturen auf den Lichtpausen der Konstrukteure an. Zwischen den Ostseeorten Karlshagen und Peenemünde entstand dafür eine gewaltige Technologieschmiede des „Deutschen Reiches“, wo das Heer u.a. das A4 technologisch durchkonzipierten. Bis 1940 wurde die für damalige Verhältnisse unglaubliche Summe von ca. 550 Millionen Reichsmark auf der Insel Usedom investiert.
Dabei arbeitete der Stab unter Walter Riedel an dem „Gerät F“ noch in den Konstruktionsbüros von Kummersdorf. Die erste Planung besagte: eine Länge von 14 m bei 1,5 m Durchmesser; das Startgewicht sollte 12.000 kg inklusive 1000 kg Nutzlast betragen; die Brenndauer des „Ofens“ war auf 65 Sekunden und die max. Fluggeschwindigkeit auf 1500 m/sec (5400 km/h) berechnet. Mit diesen Werten wollte man eine Strecke von 175 km überwinden können.
Auch aufgrund erheblicher technischer Schwierigkeiten mit dem ersten Entwicklungsträger, dem Aggregat 3, entschied man sich für ein weiteres Zwischenmuster, ähnlich dem Versager, doch mit verbessertem Triebwerk und Steueranlagen. So entstand das Aggregat 5. Hier wurden diverse Vorgängergenerationen für das A4 gestestet: Von Kreiselplattformen bis Antennen, von Strahlruderform bis zur Einspritzung der Treibstoffe.
Obwohl Adolf Hitler trotz seines Besuches in Kummersdorf-West von der Raketenwaffe nicht überzeugt war, ließ Generaloberst von Brauchitsch das Raketen-Programm mit der höchsten Dringlichkeitsstufe versehen. Nach dem militärischen Erfolg in Polen führte Hitlers Misstrauen im November 1939 zu stark reduzierten Materialzuwendungen und schließlich am 19. März 1940 sogar zur Streichung der Raketenforschung von der Dringlichkeitsliste. Es wurden aufgrund der fehlenden Dringlichkeit bereits Stammwissenschaftler zur Wehrmacht eingezogen. So schien für die Peenemünder das Ende absehbar. Immerhin erhielt einige Zeit später Oberst Walter Dornberger aufgrund seiner recht guten Beziehungen zu Generaloberst von Brauchitsch die Genehmigung, für die Fortführung des A 4-Programms ca. 4000 technisch vorgebildete Frontsoldaten auszusuchen und das sog. Versuchskommando-Nord in Peenemünde zu bilden.
Doch der Krieg erforderte für alle Bereiche ein Hinwenden auf schnellstmöglichen, kriegsentscheidenden Einsatz. So auch für das Aggregat mit der Nummer 4, das im Goebbelsschen Jargon der nationalsozialistischen Propaganda gegen Kriegsende zur „Vergeltungswaffe 2“ umfunktioniert wurde (Namensvorschlag übrigens von Hans Schwarz van Berk. Der anfängliche Name „Höllenhund“ wurde verworfen /Speers Tagebücher/). Aus einer noch nicht fertigen militärischen, punktgenauen Zielwaffe entstand eine Terrorflächenwaffe, die später unter SS-Aufsicht im Kohnstein/Harz gefertigt wurde.
Oberst Dornberger, der „Reisende in Sachen Geld“, leistete weiterhin unermüdlich Überzeugungsarbeit für sein A 4-Programm. Nach der verlorenen Luftschlacht um England sah mancher in der Fernrakete die einzige Möglichkeit, England zu treffen. So wurde im August 1941 durch den Reichskanzler die Erprobung des A 4 bis zur Einsatzreife genehmigt. Er forderte in diesem Zusammenhang gleichzeitig Vorbereitungen, die eine Monatsproduktion von 3000 Stück sichern sollten. Damit opferte man aber zwischenzeitlich die Genauigkeitsanforderungen zugunsten weit entfernter Flächenziele. Trotz unwahrscheinlicher Materialschwierigkeiten, denn noch besaß Peenemünde nicht die höchste Dringlichkeit „SS“, kam das Versuchsmuster 1 am 25. Februar 1942 erstmalig auf den Prüfstand VII.
Am 3. Oktober 1942 kam es zu einem Bilderbuchstart des vierten A 4. Es erreichte 90 km Höhe und mehr als die fünffache Schallgeschwindigkeit bei einer Brenndauer von 58 sec. Dabei flog die Rakete 190 km weit bei nur geringer Abweichung vom geplanten Zielort. Damit war ein vorzeigbares Ergebnis gelungen. Dass die Peenemünder diesen Start als Vorstoß in den Weltraum betrachteten zeigte u.a. die Tatsache, dass Mitarbeiter auf das Heck dieser Rakete symbolhaft eine Mondsichel mit einer darauf sitzenden Frau Luna zeichneten. Hinter dieser symbolhaften Darstellung war das Aggregat 4 mit der Bezeichnung V 4 auf dem Heck dargestellt. Vier Sterne versinnbildlichten das vierte Versuchsmuster.
Wernher von Braun äußerte vor Freude über jenen gelungenen Start, dass der einzige Fehler dieses erfolgreichen Fluges darin bestanden habe, dass die Rakete auf dem falschen Planet gelandet sei! Dornberger während einer kleinen Feier am Abend des 3. Oktober 1942: „... wir haben mit unserer Rakete in den Weltraum gegriffen und zum ersten Male diesen Weltraum als Brücke zwischen zwei Punkten auf der Erde benutzt. Wir haben bewiesen, dass der Raketenantrieb für die Raumfahrt brauchbar ist ...Dieser 3. Oktober 1942 ist der erste Tag eines Zeitalters neuer Verkehrstechnik. Es ist der Beginn der Raumschifffahrt“ /Dornberger/.
31 Erprobungsstarts wurden bis zum Juni 1943 getätigt - die Serienreife schien nahe. Trotz weiterer Fehlschläge - es gab sogar Explosionen auf dem Starttisch – flogen verschiedene Muster immerhin bis zu 287 km weit.
Obwohl die technische Entwicklung noch immer nicht abgeschlossen war, wird in Peenemünde-Süd ein sog. Versuchsserienwerk errichtet. Die Kapazität soll etwa 250 Raketen im Monat betragen. So lautete jedenfalls die Forderung von Adolf Hitler und Reichsminister Albert Speer im Dezember 1942. In dieser Zeit wohnen etwa 18.000 Menschen im Bereich von Peenemünde einschließlich Familienangehörigen, davon 5.000 wissenschaftliche Mitarbeiter.
Während in Peenemünde alles auf Hochtouren lief, denn mittlerweile hatte hier der 0-Serienanlauf begonnen, erhielt die englische Aufklärung durch zahlreiche Berichte Kenntnis über das geheimnisvolle Objekt. Um die gefährlichen Projekte zu stoppen, befanden sich in der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 insgesamt 596 britische Bomber im Anflug auf Peenemünde. Ihre Bomben forderten 733 Tote und viele zerstörte Wohngebäude, Werkhallen und Testeinrichtungen.
Trotzdem geht das Projekt weiter, und kaum zwei Monate später, am 6. Oktober 1943, beginnt das Versuchsschießen von A 4-Raketen wieder. Gleichzeitig erhält Dornberger die Anweisung vom Oberkommando Heer, ab November 1943 die A 4-Raketen zur weiteren Erprobung nur noch von dem neuen Startgelände „Heidelager“, gelegen neben einem riesigen Truppenübungsplatz der SS in Pustkow bei Blizna, nördöstlich von Debica (heutiges Polen), zu verschießen.
In Bezug auf die Geheimhaltung bringt der neue Standort eher noch weniger Erfolg, wie sich bald herausstellte. Einer polnischen Partisanengruppe gelang es, von einem abgestürzten A 4 Teile zu bergen, zu zerlegen und etwa 50 kg Material unbemerkt mit ein Flugzeug vom Typ DC-3 am 15./16. Juli 1944 nach England schaffen zu lassen. Als nächstes erhält Großbritannien am 31. Juli 1944 etwa 2000 kg A 4-Material aus Schweden. Neutralität war relativ!
Trotz aller Probleme wurde die Entwicklung permanent weitergeführt, denn die Rakete war bei weitem nicht fertig entwickelt! Zwar wurde am 31.12.1943 die ersten vier A4 aus dem Mittelwerk im Kohnstein „ausgestoßen“, doch war das „Pfusch“, der unter Aufsicht der SS unter Leitung des brutalen Dipl.-Ing. Albin Sawatzkis „zusammengeschossen“ wurde.
Lassen wir die Person sprechen, die das A4 wirklich hautnah beurteilen konnte: „Es ist ein Fehler, zu meinen, dass die Ausarbeitungen zur vaterländischen Rakete ausgehend vom Typ A4 nur die Aufgabe der Kopierung der deutschen Technik ist und mit einem Wechsel der Materialien durch die Materialien unserer vaterländischen Marken getan ist. Neben dem Wechsel der Materialien und des Aufbaus des ganzen technologischen Prozesses unter unseren Bedingungen ist zu beachten, dass die Rakete A4 von den Deutschen nicht bis zu dem Niveau ausarbeitet war, welches für eine sich in der Rüstungsfertigung befindliche Rakete verlangt wird“ /Wetrow: Koroljow/.
Durch die Auswertung der Verschussdaten in der zentralen Auswertestelle des Heereswaffenamtes in Zeithain bei Riesa – hierher gingen die Lebenslaufakten der einzelnen Raketen per Geheimkurier im Begleitpapierbehälter – und die immer noch wirkenden Forschungsaufträge des Oberkommando des Heeres, wurden kontinuierlich neue Werkstoffe, Baugruppen, Schaltungen usw. vorgeschlagen und wollten umgesetzt werden.
In seinen Memoiren berichtet Arthur Rudolph, Betriebsdirektor im Mittelwerk, dass er schließlich einführte, bis zum Monatsende alle Änderungen vorzubereiten und ab 1. des Monats mit einem neuen Los einheitlich weiterzuproduzieren.
Die „Produktion“ war eigentlich eine permanente Verbesserung der Rakete um sie flug- und zielsicher zu machen. Warum sollte man das denn tun? Das A4 war doch im „Historikerjargon“ eine Massenvernichtungswaffe für Großstädte. Da ist es ja eigentlich egal, wo die Rakete „runterkam“… Wenn das Heereswaffenamt nun aber im Widerspruch zu allerhöchster Anordnung doch die Rakete zielgenauer weiterentwickeln wollte – was waren deren Beweggründe? Beim „effektiven Einsatz“ gegen den Feind sind Wohnhäuser keine Ziele, sondern strategische Knotenpunkte, Kommandozentralen oder Fabriken. Solch eine „kostbare“ Rakete mit nicht mal einer Tonne Sprengstoff einfach in den Sand „zu hauen“ entlockt keinem Militär ein Lächeln. „Zielen und auch treffen“ sind gestern wie heute ganz „normale“ militärische Doktrinen.
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